Der unterschätzte Schlaganfall

Zur Aufklärungspflicht des Arztes über Risiken in eigener Person; zum Urteil des Landgerichts Kempten (LG Kempten v. 08.10.2020 & Bay. OLG, Urt. 29.06.2021)

 Dass Ärzte zur Risikoaufklärung über die mit einem operativen Eingriff grundsätzlich und spezifisch verbundenen Risiken verpflichtet sind, ist gemeinhin bekannt. Inwieweit Ärzte jedoch auch über etwaige, aus ihrer eigenen körperlichen Konstitution resultierende Behandlungsrisiken aufzuklären haben, ist dagegen weit weniger klar und offensichtlich:

Das LG Kempten hatte über die Strafbarkeit eines Facharztes für Augenheilkunde zu entscheiden, der 2009 einen Schlaganfall mit typischen Folgen (Aphasie, Alexsie, Akalkulie, Hemiparese und, was für die Frage der Strafbarkeit durchaus relevant ist, Anosognosie – also die Unfähigkeit, Erkrankungen der eigenen Person wahrzunehmen) erlitten hat.

 Im Anschluss kämpfte er sich schrittweise wieder in seine berufliche Tätigkeit zurück und war zwischen 2011 und 2016 wieder in eigener Praxis (zunächst assistiert, sodann alleinverantwortlich) operativ tätig. Dabei hat er – so die Feststellungen der Staatsanwaltschaft – in diesem Zeitraum knapp 3.000 gesetzliche Versicherte und eine nicht näher definierte Anzahl von Privatpatienten an den Augen operiert.

 

„ungeeignet“ nach Schlaganfall

Das Gericht ging dabei – sachverständig u.a. durch neurologische Gutachter beraten – davon aus, dass der Arzt in diesem Zeitraum infolge der durch den Schlaganfall verursachten und dauerhaft verbliebenen Beeinträchtigungen zur Ausübung des ärztlichen Berufs als ambulanter Operateur objektiv ungeeignet gewesen sei.

Da der Arzt dies – trotz seiner (auch) kognitiven Funktionsstörungen – bei kritischer Würdigung (seiner) selbst hätte erkennen können (er sich entsprechend der Sorgfalt eines „vorsichtig Behandelnden“ nicht auf seine Selbsteinschätzung hätte verlassen dürfen), gelangte das Gericht zu einer Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung zum Nachteil der von ihm operierten Patienten, nachdem er diese pflichtwidrig nicht über die eigenen, schwerwiegenden Gesundheitsprobleme aufgeklärt habe und deshalb eine wirksame (und den körperlichen Eingriff rechtfertigende) Einwilligung der Patienten nicht vorlag.

 Dabei stehe der Strafbarkeit nach Auffassung des Gerichts gerade nicht entgegen, dass die Komplikationsrate bei den vom Angeklagten durchgeführten Eingriffen gerade nicht überdurchschnittlich war; soweit solche Komplikationen in den von der Staatsanwaltschaft angeklagten Fällen tatsächlich aufgetreten waren, konnte jedenfalls nicht nachgewiesen werden, dass diese ursächlich auf die gesundheitlichen Einschränkungen des Operateurs zurückzuführen waren. Jedoch habe sich der Arzt bereits durch die unterlassene Aufklärung als solche und selbst unter der Annahme strafbar gemacht, dass die Behandlungen im Übrigen lege artis ausgeführt wurden und ein Gesundheitsschaden auf Seiten der Patienten tatsächlich nicht eingetreten ist. Denn diese hätten in Kenntnis der körperlichen Konstitution des Angeklagten „niemals“ in die jeweilige OP eingewilligt.

 

Keine Einschränkung bei amtsärztlicher Untersuchung

Ebensowenig ändere sich – so das Gericht – etwas an der Strafbarkeit durch den (doch etwas pikanten) Umstand, dass die zuständige Aufsichtsbehörde (hier: die Regierung von Schwaben) auf ausdrückliche Bitte der Bay. Landesärztekammer bereits 2011 eine amtsärztliche Untersuchung des Arztes veranlasst hatte, die im Ergebnis (also in Kenntnis des Schlaganfalls) „keine Anhaltspunkte für körperliche Einschränkungen“ feststellen konnte und deshalb das berufsrechtliche Verfahren gegen den Arzt – wohlgemerkt Ende 2014 – folgenlos für ihn einstellte. Eine etwaige strafrechtliche Verantwortlichkeit der Aufsichtsbehörde hat das Gericht – soweit ersichtlich – nicht weiter thematisieren müssen …

 

Aufklärung über in seiner Person liegende Risiken

Ein Arzt ist also – so die Kernaussagen des Urteils – verpflichtet, über solche in seiner Person liegenden Risiken aufzuklären, die auf die sachgerechte Durchführung der ärztlichen Heilbehandlung Einfluss haben können, und zwar gänzlich ungeachtet der hieraus möglicherweise resultierenden Folgen für die berufliche Situation des Arztes. Der Umstand, dass sich der Arzt selbst als weiterhin befähigt zur Vornahme von ambulanten Operationen gehalten habe, könne nach Auffassung des Gerichts allenfalls dazu führen, dass eine vorsätzliche Tatbegehung (irrtumsbedingt) ausscheide – so auch hier: Der Arzt wurde wegen (mehrfacher) fahrlässiger Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten (ausgesetzt zur Bewährung) verurteilt – letzteres ist indes noch nicht rechtskräftig, da das Bay. OLG offenbar auch die Möglichkeit einer Verurteilung wegen vorsätzlicher (!) Tatbegehung in Betracht zieht und das Verfahren daher insoweit nochmals aufzurollen sein wird.

Der Entscheidung mag im Interesse der Patienten hinsichtlich der ärztlichen Aufklärungspflichten zuzustimmen sein; kritisch ist jedoch anzumerken, dass gerade die subjektive Vorwerfbarkeit (Stichwort: „Anosognosie“) im Rahmen von Fahrlässigkeitsdelikten (in I. und II. Instanz) bisweilen mehr oder weniger unterstellt wird.

 

RA Matthias Wonschik, Fachanwalt für Medizinrecht

Münsterplatz 23
T +49 731 967 95-0

Heimstraße 11
T +49 731 155 390-0

89073 Ulm

kanzlei@wws-ulm.de